Um ewig einst zu leben
Caspar David Friedrich und Joseph Mallord William Turner

Um ewig einst zu leben

Christoph Werner

2006, 240 Seiten, broschiert

ISBN: 978-3-937601-34-2
Preis: 12,00 €

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Um 1815 zwei Männer, beide Maler – der eine in London, der andere in Dresden; der eine weltoffen, der andere düster melancholisch. Es sind J. M. William Turner und Caspar David Friedrich.

Im Roman werden das Leben und Wirken, der Antrieb und Erfolg beider Männer gegenübergestellt. Zwei Lebenswelten in der gleichen Zeit. Für Spannung sorgt die Frage nach dem Berührungspunkt.

Der Roman lässt den Leser eine distanzierte Begegnung der Maler Turner und Friedrich erleben und führt ihn in die Welt ihrer Bilder, ihrer Motive und ihrer Zeit.

Leseprobe

Teil 2
Meißen, Mai 1816
Kapitel 3

Der Pfarrer war ein wohlgenährter Herr, dessen rosiges Gesicht in keiner Weise fähig war, die in seinem Amt zuweilen notwendige Strenge auszudrücken. So gingen denn die sündigen Schafe seiner Gemeinde gern in seine Gottesdienste, weil er in seinen Predigten nicht den grimmigen, mörderischen, jähzornigen und dauernd beleidigten und strafenden alttestamentarischen Gott predigte, der, so sie ihm nicht sklavisch gehorchten, die Menschen dahinraffte, vernichtete, schlug, sie mit Pestilenz verfolgte, auch die kleinen Kinder und das Vieh nicht verschonte und was nicht noch alles.
Pfarrer Gottlieb war ein heiterer Christ, und Gott für ihn ein Gott der Liebe und des Verzeihens und nicht der Verdammnis. Die Hölle wie auch das hinter dem Tabernakel im Chor des Domes angeblich brennende Fegefeuer waren für ihn Erfindungen der alten Kirche, die leider auch in der neuen noch weiterwirkten, um die Menschen in Angst und Gehorsam zu halten. Natürlich hielt er mit derlei Auffassungen klugerweise hinter dem Berge, denn das Konsistorium war unnachsichtig und hatte ihn wegen seiner wenig strengen Amtsführung schon mehrfach gerügt. Da ihn aber hochangesehene und vermögende Glieder der Gemeinde schätzten, war er bis dato noch nicht an eine mindere Pfarrstelle versetzt worden.
Er trug einen einreihig geknöpften, hochgeschlossenen, mit einem kleinen Stehkragen versehenen Gehrock, unter dem sich sein Bauch wölbte. Sein Haupt war unbedeckt.

Pfarrer Gottlieb war trotz seines nach außen gekehrten fröhlichen Wesens ein ernsthafter Mann, der schlechtere Zeiten gesehen und nicht vergessen hatte. Er war während der großen Völkerschlacht Anno Domini 1813 Feldgeistlicher beim sächsischen Armeekorps gewesen und am 18. Oktober mit einem Teil der sächsischen Truppen zu den Verbündeten übergegangen. Einige der Soldaten gehörten zu den knapp sechstausend, die aus Russland zurückgekommen waren. Einundzwanzigtausend Sachsen waren sie, als der Feldzug begann. Die Qualen der Soldaten waren unbeschreiblich, und diejenigen, die von den Kosaken und russischen Bauern schnell totgeschlagen wurden, konnte man noch glücklich schätzen.

Nach der Schlacht bei Leipzig wurden tausende Verwundete und Sterbende, darunter nicht wenige Franzosen, in die Leipziger Kirchen, die man in Lazarette umgewandelt hatte, gebracht, wo sie in die Hände der Chirurgen fielen. Diese sägten, hackten, schnitten und kauterisierten an den schreienden und stöhnenden Soldaten herum, dass einem das Herz brechen wollte.

Außerdem wütete in den Spitälern das Lazarettfieber, so dass wenige lebend herauskamen. Täglich wurden die Gestorbenen ganz entkleidet aus den Fenstern auf die Straße geworfen und große Leiterwagen bis an den Rand mit den Toten angefüllt. Die Fuhrleute traten auf den Leichen herum und hantierten mit aufgestreiften Hemdsärmeln, als hätten sie Holzscheite unter sich. Viele Soldaten wollten nicht mehr in die Lazarette, weil sie sich dann unrettbar verloren glaubten, sondern zogen es vor, in einem Winkel der Straße oder auf der Treppe eines Hauses zu sterben.

Gottlieb versuchte zu trösten, wo er konnte, und schrieb die letzten Worte vieler auf, um sie den hinterbliebenen Müttern, Vätern, Schwestern, Bräuten und Ehefrauen zu bringen und, wenn das nicht möglich war, zu schicken.

Das Leid hatte ihm das Herz nicht verhärtet, sondern sein Mitleid mit den Menschen verstärkt, die sich da gegenseitig solch unaussprechliches Leid zufügten. Auch konnte er trotz des Erlebten den Franzosenhass seiner Landsleute, auch seines Freundes Friedrich, nicht teilen. Zu viele von ihnen hatte er sterben sehen, und nie wird er die Bilder des Rückzugs der Franzosen aus Leipzig vergessen. Die in Auflösung begriffenen Regimenter wälzten sich durch die Straßen, untermischt mit Packwagen, Vieh, Munitionskarren und Geschütz. Zurück blieben umgestürzte Wagen, tote und verwundete Soldaten, Pferde, denen das Gedärm aus dem Leib hing und sich bei ihren verzweifelten Versuchen, hochzukommen, um die Beine gewickelt hatte, und das alles unter dem fortwährenden Donner der Geschütze und dem Aufblitzen des Pulvers.

Er ertrug die Vorwürfe mit Geduld, er habe den verwundeten Franzosen ohne Ansehen ihrer katholischen Religion den gleichen christlichen Trost gespendet wie den Sachsen. Auch der Arzt und Maler Carus war schließlich unter Nichtbeachtung aller nationalen Schranken seiner Berufung nachgekommen und hatte im Jahre 13 die Leitung eines französischen Militärspitals übernommen, wofür er sogar den Orden der Ehrenlegion bekommen sollte.

Unter allen Bildern Friedrichs mochte der Pfarrer den „Chasseur im Wald“ besonders, weil das Bild die Verlorenheit des Soldaten, sein unausweichliches Schicksal, symbolisiert durch den dunklen Wald vor ihm und den wartenden Totenvogel hinter ihm, ohne Hass, sondern mit trauerndem Mitgefühl zeigte. Der Maler hatte ihm das Bild mit der Bemerkung überlassen, er könne es solange behalten, bis sich ein Käufer fände. Interessenten würde er nach Meißen zu Gottlieb schicken, damit sie sich das Bild ansehen könnten.

Neben dem „Hermannsgrab“ war das Gemälde auf der vom russischen Generalgouverneur Fürst Repnin im März 14 veranstalteten Patriotischen Kunstausstellung zur Feier der Befreiung Dresdens einer der Hauptanziehungspunkte gewesen.

Friedrich selbst hatte sich für mehr als acht Monate während der kriegerischen Ereignisse in das stille und anmutig gegenüber Schandau an der Elbe gelegene Dorf Krippen in der Sächsischen Schweiz zurückgezogen, da er sich zum Kriegsdienst für ungeeignet hielt. Seinen Freund Kersting unterstützte er jedoch tapfer bei der Ausrüstung als Lützower Jäger. Und unter dem Eindruck des gefallenen Theodor Körner dichtete er patriotisch:
Friede der Gruft streitender Krieger
Siegend und fallend für Freiheit und Recht!
Friede mit euch, Kämpfer im Streit
Heiliger Sache, Vaterlands Glück!
Ewig wir ehren,
Nimmer vergessen wir;
Wie ihr gestritten,
Was ihr gelitten,
Für uns errungen,
Wen ihr bezwungen.

Gottlieb hatte Friedrich bei dessen wiederholten Besuchen in Meißen und im Dom kennen und schätzen gelernt. Da er selbst Kunstliebhaber und Anhänger der neuen Landschaftsmalerei war, besuchte er den Maler auch in seinem Atelier in Dresden und kannte fast alle seine Bilder. Er gewann den knorrigen und zuweilen düster-melancholischen Mann lieb und machte es sich zur Aufgabe, ihn, wann immer möglich, aufzuheitern und ihm die freundliche Seite des Christenglaubens nahe zu bringen. Und Friedrich war ihm dankbar, denn er wusste um seine seelische Verfasstheit, unter der er litt und der er zuweilen gern entkommen wäre, die er aber zugleich als eine Voraussetzung seines künstlerischen Schaffens empfand.

Es war nicht verwunderlich, dass Pfarrer Gottlieb den Maler im Streit mit Ramdohr unterstützt und sowohl andeutungsweise in seinen Predigten wie auch explizit in seinen im „Journal des Luxus und der Moden“ unter dem Pseudonym Deo Gratias publizierten künstlerischen Kommentaren für den Maler Stellung bezogen hatte.

„Mein lieber Friedrich“, rief er dem Freund entgegen, als sie noch mindestens fünfzehn Schritte voneinander entfernt waren. „Wie schön, dass Sie uns heute in Meißen besuchen. Der Küster ist gleich zu mir heruntergekommen und hat mir von Ihrem Besuch im Dom berichtet.“ Er eilte dem Maler mit ausgestreckten Händen entgegen, die Friedrich ergriff und schüttelte. Dabei lächelte er freudig.
„Herr Pfarrer, Sie kommen mir gerade recht, nachdem mich soeben Ramdohr heimgesucht hat.“

„Sie scherzen, Ramdohr ist hier?“ Der Pfarrer sah sich suchend um.
„Nein, nicht im Fleische, im Geiste suchte er mich heim, als ich saß und träumte, dort, in der Georgskapelle vor dem Cranachbild. Die alten Geschichten kommen immer wieder hoch und grämen mich, nicht wegen der Kritik, sondern wegen des kalten Unverständnisses. Nur die Beschränktheit herzloser Kunstrichter, durch deren Schriften schon so manches zarte Gemüt verdorben und erkaltet, können wähnen, dass nur ein einziger Weg zur Kunst führe, und zwar der von ihnen vorgeschlagene.“

„Ja, lieber Friedrich, da haben Sie wohl Recht. Allein, ist etwas anderes zu erwarten? Kommt nicht jetzt, nachdem der patriotische Aufschwung fast vorbei und die dem Volke gemachten Versprechungen vergessen sind, wieder ein kalter realism auf, der alles Geheimnis- und Gemütvolle aus der Kunst entfernen will? Denken Sie nur, wie Exzellenz Goethe sich neuerdings über unsere Landschafter äußert, und selbst der verehrte Schinkel in Berlin will jetzt nichts mehr davon wissen, wie er noch vor kurzem gemalt hat. Allerdings hat er sich ohnehin fast gänzlich der Baukunst zugewandt, in der er wohl noch Größeres als in der Malerei leisten wird.“

Während dieser Worte hatte sich Gottlieb dem Ausgang zugewandt und zog den Maler am Arm mit sich.
„Kommen Sie, mein Lieber, es geht auf Mittag zu und meine Frau hat ein Essen vorbereitet, das auch noch für einen unerwarteten aber umso lieberen Gast ausreichen dürfte.“

Sie verließen den Dom und gingen am Kornhaus vorbei über den Domplatz und die Schlossbrücke, wendeten sich nach links in die Schlossstraße und gingen die Roten Stufen hinab zur Freiheit, ließen St. Afra rechts liegen und erreichten nach kurzer Zeit das Pfarrhaus, Freiheit Nr. 7. Der Name Freiheit ging auf die einstige Unabhängigkeit ihrer Bewohner von der Stadt zurück. Sie unterstanden nicht der städtischen Gerichtsbarkeit und waren frei von Pflichten gegenüber der Stadt, durften jedoch auch keine bürgerlichen Gewerbe ausüben. Auf der Freiheit befanden sich fast ausschließlich Domherrenhöfe sowie Freihöfe von Landadeligen, weiträumige und von hohen Mauern umgebene Anwesen mit der baulichen Dominante der Kirche St. Afra, welche zusammen mit dem nördlich daran anschließenden Klosterhof zum ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift St. Afra gehörte.
Dies alles rekapitulierte Pfarrer Gottlieb liebevoll, obwohl er wusste, dass Friedrich mit der Geschichte der Stadt vertraut war. Gottliebs Herz hing an Meißen, und er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, das zum Ausdruck zu bringen.

Vor dem Pfarrhaus blieben die Freunde stehen und blickten auf den Fachwerkerker aus der Renaissance-Zeit, auf dessen Rundbildern die Apostel Petrus und Paulus dargestellt waren. Dann betraten der Maler und der Pfarrer das Haus.

Das Erdgeschoss der Pfarre wies mit seinen schießschartenartigen Maueröffnungen und den Strebepfeilern auf ein hohes Alter des Gebäudes hin, was Pfarrer Gottlieb nicht versäumte seinem Gast mitzuteilen. Es dürfte aus einem turmartigen, befestigen Haus hervorgegangen sein. Derartige feste Häuser gab es auch an vielen anderen Stellen auf der Freiheit und an anderen Stellen in Meißen. Sie wurden noch vor der Ummauerung der Stadt errichtet.

Frau Gottlieb, die Friedrich nicht zum ersten Male bewirtete, begrüßte ihren Gast herzlich. Sie war eine kleine, zarte Frau, die ein langes, dunkles Kleid mit einer hohen Taille und einem den Hals verdeckenden Kragen trug. Die Haare hatte sie unter einer Haube versteckt, die unter dem Kinn, das rundlich und appetitlich hervorschaute, zusammengebunden war. Sie hatte eine weiße Schürze um, die sie angesichts des Gastes rasch ablegte. Das Kleid schloss an den Handgelenken mit Rüschen und Bündchen ab. An der rechten Hand trug sie statt des goldenen einen eisernen Ring, denn sie hatte seinerzeit, dem Aufruf der Spenerschen Zeitung in Berlin folgend, zur Finanzierung des Kampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft ihren Schmuck samt dem Ehering geopfert. Da man hier in Sachsen mit Napoleon verbündet war, musste das heimlich geschehen. Ein Freund hatte den Schmuck mit nach Berlin genommen und dort für sie abgegeben.

Sie gingen am Amtszimmer ihres Mannes vorbei in die große Essdiele, wo der Tisch schon gedeckt war. Bei Gottliebs aß man gut, auch an einem Wochentag wie heute, und Frau Gottlieb legte stets Wert darauf, ein Dienstmädchen zu haben, das ihr beim Kochen, welches sie meist selbst besorgte, sachkundig zur Hand gehen konnte.
Als sie gerade dabei waren, sich an den Tisch zu setzen, kamen die Kinder hereingestürmt, die fünfjährigen Zwillinge Charlotte und Luise sowie der vierjährige Karl. Sie umsprangen sogleich jubelnd den Gast, der sich lächelnd zu ihnen herabbeugte und mit der Hand über ihre Köpfe strich.

Friedrich mochte Kinder sehr gern, was diese merkten und diesen seltsamen großen Mann deshalb liebten, jedoch zuweilen auch seine Gutmütigkeit ausnutzten. Wann immer sich die Gelegenheit bot, spielte er mit ihnen oder zeichnete mit großer Geduld, was sie von ihm verlangten. In Dresden war es ihm geschehen, dass ihn ein kleines Mädchen aus seiner Nachbarschaft immer wieder um kleine Zeichnungen bat und die Blätter sorgfältig mit nach Hause nahm. Der Maler freute sich über das Interesse der Kleinen und fragte sie eines Tages, was sie denn mit all den Bildern zu Hause anstelle. Ihre Antwort war: Da wickle ich doch immer mein Schmalzbrot ein, das mir die Mutter für den Spaziergang mitgibt.

Nachdem sich alle am Tisch niedergelassen hatten, trug das Dienstmädchen das Essen auf.
Auf einer Platte, die das Mädchen vor den Hausherrn stellte, war ein großes, paniertes Rinderbruststück angerichtet, mit gegartem Gartengemüse schön garniert. Eine kleine Schüssel mit gekochten Kartoffeln sowie ein Korb mit dicken Scheiben dunklen Roggenbrotes standen bereits auf dem Tisch. Die Kartoffeln waren die letzten der vorjährigen Ernte, die sich im trockenen und luftigen Keller gut gehalten hatten. Die Sachsen waren noch nicht allzu lange mit diesem neuen Zubrot vertraut, das sich wachsender Beliebtheit erfreute.
Ilse, das Dienstmädchen, das aus Schlesien stammte, war in ihrer Heimat schon länger mit dieser Erdfrucht bekannt, die der Alte Fritz durch Gewaltmaßregeln dort, wie auch in Pommern, verbreitet hatte. Auch war der Kartoffelanbau im Großen erst möglich geworden nach Abschaffung der reinen Brache in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bis dahin wurde die Kartoffel vorzugsweise in den Gärten angebaut, wenn es der Boden erlaubte. Auf schweren und nassen Böden waren die Erträge gering. Ilse ließ es sich nicht verdrießen, sich im Pfarrgarten um die spärlichen Kartoffelreihen zu kümmern, sie fleißig zu hacken, anzuhäufeln und zu gießen und die geernteten Kartoffeln schließlich im Keller aufzubewahren. Just heute war der Vorrat mit der kleinen Schüssel auf dem Tisch zu Ende gegangen.

Nachdem der Hausherr das Tischgebet gesprochen hatte, griff er zu dem großen Tranchiermesser und schnitt den Braten in gleichmäßig dicke Stücke, die er auf die ihm von den Tischgenossen hingehaltenen Teller legte.

Frau Gottlieb hatte in der Küche früh mit der Vorbereitung des Essens begonnen. Ilse hatte das große Rinderbruststück in aller Frühe vom Schlachter geholt und drei Stunden lang in Rinderbouillon gekocht. Das geschah auf einem offenen Herd und war recht umständlich, da immer wieder Holz nachgelegt werden musste.

Danach hatte Frau Gottlieb das gare Fleisch in eine mit etwas Bouillonfett benetzte Bratpfanne gelegt. Nun wurde das Fleisch mit Semmelmehl bestrichen, das mit Bouillonfett versetzt worden war. Mit etwas Salz bestreut, kam die Rinderbrust dann in die bereits durch das Herdfeuer erhitzte Backröhre. Der Braten blieb solange darin, bis er schön hellbraun war.

Inzwischen kochte Ilse auf der freigewordenen Kochstelle das geputzte Gemüse, nämlich Karotten und weiße Rübchen, in Rindsbrühe. Die Herzstücke zweier Weißkohlköpfe, die, in dicke Keile geschnitten und in fetter Bouillon und mit etwas geriebener Muskatnuss gegart, eigentlich ebenfalls dazugehörten, fehlten wegen der Jahreszeit, wie Frau Gottlieb ihrem Gast erklärte.

Die kleine Tischgesellschaft gab sich eifrig dem Essen hin und auch Friedrich, in dessen Junggesellenhaushalt in Dresden es sehr karg zuging, langte kräftig zu. Die beiden Zwillingsschwestern aßen sehr manierlich, während Frau Gottlieb dem vierjährigen Karl das Essen auf dem Teller zurechtschnitt und ihn immer wieder ermunterte, sich die Bissen mit seinem kleinen Löffel in den Mund zu schieben. Das Dienstmädchen aß in der Küche neben dem Spülstein.

Das Tischgespräch, das hauptsächlich von Pfarrer Gottlieb und dem Maler bestritten wurde, während Frau Gottlieb mit den Kindern beschäftigt war, drehte sich um die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Teilung Sachsens sowie die Haltung des Königs, Friedrich August. Pfarrer Gottlieb fand es außerordentlich bemerkenswert, dass der aus preußischer Gefangenschaft zurückkehrende geschlagene König einen Tag nach dem Abzug der Preußen vor knapp einem Jahr mit großem Jubel, ganz wie ein glorreicher Sieger, in Dresden empfangen worden war.

„Da haben Sie, lieber Friedrich, eine menschliche Haltung unserer Sachsen, die ungeachtet etwaiger geistiger und politischer Überzeugungen das Nächstliegende tun, indem die Menschen die Frage beantworten, wie kann ich in diesen Zeiten mich und meine Familie durchbringen.“

Der Maler antwortete: „Ja, so ist es wohl. Doch hätte ich zumindest beim Empfang des Königs mehr Zurückhaltung von den Dresdnern erwartet. Hat doch dieser König durch seine schwankende, unentschlossene Haltung und sein Festhalten an Napoleon seinem Land den größten Schaden zugefügt. Mehr als die Hälfte des Landes ist verloren und, was viel schlimmer ist, auch ein großer Teil der Bevölkerung.

Ich kann auch nicht vergessen, in welch lächerlichen Byzantinismus große Teile der Bevölkerung Dresdens bereits bei der durch die Hand eines fremden Kaisers erfolgten Erhebung unseres Kurfürsten zum König Anno 6 verfielen. Seine Magnifizenz, der Rektor der Universität, entblödete sich nicht, an der Anatomie in einer Art von Flammenschrift die Huldigung anbringen zu lassen: ‚Auch die Toten rufen: Lebe!’ Zugegeben, es gab einige wenige andere Stimmen, die sich in dem Spruch zusammenfanden:
‚Vivat, Friedrich August Rex;
Wer noch Geld hat, der versteck’s!’
Doch es wurde Sorge getragen, dass dies dem neu ernannten König von Napoleons Gnaden nicht zu Ohren kam.“
„Was erwarten Sie von den Menschen“, entgegnete Gottlieb. „Am ehesten noch scheint in diesen beunruhigenden Zeiten, nachdem das Vertrauen der Bevölkerung in die Verbündeten durch die Teilung erschüttert war, die seit Jahrhunderten herrschende Dynastie der Wettiner den Menschen Halt zu bieten.“
Friedrich antwortete nicht gleich, sondern schnitt sich ein Stück Fleisch von seiner Scheibe ab und aß es mit etwas Brot und Gemüse. Dann trank er einen Schluck Weißwein, den ihm Pfarrer Gottlieb aus dem Krug, der vor ihm auf dem Tisch stand, eingegossen hatte. Er tat einen Seufzer und blickte Gottlieb und seine Frau dankbar an.
„Ach wie gut das tut, so ein reichhaltiges und warmes Essen, und der schöne Meißener Wein.“
„Essen und trinken Sie nur, lieber Friedrich, es ist genug da.“ Frau Gottlieb nickte ihm freundlich zu. Sie und die Kinder tranken Wasser.
Ihr Gast nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
„Eigentlich sollte ich die Verluste Sachsens an Land und Leuten nicht beklagen. Was am Ende zu wünschen wäre, ist schließlich ein einiges Deutschland, ohne alle diese Grenzen und Einschränkungen. Und so ist es am Ende egal, wenn nicht gar von Vorteil, wenn Land und Leute an Preußen kommen, das viel mehr für die deutsche Nation getan hat als Sachsen. Aber für die Beurteilung des Königs bleiben meine Worte wohl berechtigt.“
Der Pfarrer ging nicht weiter auf diese Bemerkung ein, denn er wollte sich in Gegenwart von Frau und Kindern mit Friedrich nicht in eine Diskussion der Person des Königs einlassen.
Als die Mahlzeit nach einem Nachtisch aus eingemachten Birnen beendet war und die Kinder bereits unruhig auf ihren Stühlen hin- und herrutschten, sprach der Hausherr ein Dankgebet und alle erhoben sich.
„Wir wollen noch, wenn es Ihre Zeit zulässt“, sagte Gottlieb zu seinem Gast, „in mein Amtszimmer gehen. Unser Gespräch über Ramdohr und die Kunstkritiker ist noch nicht beendet. Und meine liebe Frau wird uns sicher eine schöne heiße Tasse Kaffee bringen.“ Frau Gottlieb und Friedrich stimmten zu, und so gingen die beiden Freunde in das Zimmer des Pfarrers, wo sie sich auf zwei mit Leder bezogenen Stühlen an einem kleinen Seitentisch niederließen.

Rezension

"Der Roman... lässt den Leser eine distanzierte Begegnung der Maler Caspar David Friedrich und Joseph Mallord William Turner erleben und führt ihn in die Welt ihrer Bilder, ihrer Motive und in ihre Zeit. Dazu bedient sich der Autor einer erfundenen Person, die, mit einer historisch gut eingebetteten Biographie versehen, eine glaubhafte Verbindung zwischen den beiden Malern herstellt. Friedrichs düster-melancholische wie auch christlich-protestantisch geprägte Lebenssicht und Joseph Mallord William Turners Weltoffenheit sind der Kontrast, der vor dem Hintergrund ihres Lebens diesen Roman durchzieht. Und dennoch verbindet die beiden Maler etwas Entscheidendes: das Unangepasste, man kann schon sagen, das Unbotmäßige ihrer Kunst.

Der eine sagt, der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.

Der andere erzählt, ich war vier Stunden lang an den Mast gebunden und hatte keine Hoffnung mehr, mit dem Leben davonzukommen, aber falls ich davonkäme, musste es aufgezeichnet sein, und malt danach sein Bild.

Aus unterschiedlichen Gründen werden die beiden Zeitgenossen (Friedrich lebte von 1774 bis 1840, Turner von 1775 bis1851) erst viele Jahre nach ihrem Tode zu ihrem Ruhm kommen. Der eine trifft mit seinen Bildern ein existenzielles Lebensgefühl, der andere bereitet mit seiner ungeheuren Impression von Licht und Farbe einer umfassenden neuen Kunstrichtung den Weg.

Wir sind geneigt, diese beiden Maler der Romantik zuzurechnen, obwohl ihre Bilder hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte und ihres Ausdrucks so unterschiedlich sind wie die dahinterliegende Philosophie ihrer Schöpfer.

Wie, Caspar David Friedrich und William Turner dennoch in einer Geschichte? Doch, der Autor versucht es, mit Erfolg.

Vor dem Hintergrund ihrer Biographien, der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in ihren Ländern sowie der vorherrschenden Kunstrichtungen schreibt er diesen Roman und bringt dem Leser die Maler und ihre Bilder nahe.

Wir werden nach London, Dresden und Meißen geführt und erleben am englischen und sächsischen Königshof, wie die Herrscher die Maler und ihre Kunst betrachten und versuchen, sie ihrer Herrschaft nutzbar zu machen.

Wie schon in seinem Roman über Karl Friedrich Schinkel „Schloss am Strom“, wo uns der Autor den preußischen König Friedrich Wilhelm III und den Kronprinzen persönlich nahebringt, gelingt es Christoph Werner auch in diesem Buch, die Monarchen und ihre Motive der Förderung der Kunst zu beschreiben und glaubhaft zu machen.

Die Sprache zeugt erneut von äußerster Sorgfalt und einer dem Gegenstand des Romans angemessenen stilistischen Höhe. Diese zeigt sich dann besonders deutlich, wenn der Leser behutsam an einzelne Bilder herangeführt wird und ihm, wie bei der Betrachtung von Turners „Frosty Morning“, das Bild sowohl als unmittelbares Wirklichkeitserlebnis wie auch als transzendentes Werk des Künstlers, der die Grenzen der Wirklichkeit vermittels des im Beschauer erweckten Gefühls überschreitet, nahegebracht wird. Und immer betont Werner das Subjektive der Kunst, der Malerei und öffnet sich und den Leser damit für eine eigene Sicht auf die Bilder.

Wer auf anregende belletristische Weise etwas über Friedrich und Turner, ihre Zeit und ihre Kunst lesen möchte, ist mit diesem Buch ausgezeichnet bedient und wird am Ende dem Bedürfnis nicht entgehen, sich die Bilder der Maler anzuschauen, die übrigens alle im Internet in guter Qualität zu finden sind."

Rezension von
Dr. Frank Meyer, Trier